Rezension: Briefe durch die Mauer
Ernst Bloch ist zwar einer der wichtigsten deutschen Philosophen des letzten Jahrhunderts, seine Werke werden allerdings in der philosophischen Debatte der Bundesrepublik zur Zeit relativ wenig diskutiert. Für aktuelle und kommende Generationen von Philosophinnen und Philosophen macht sich deshalb der Talheimer Verlag aus Mössingen-Talheim seit vielen Jahren an die Verdienstvolle Aufgabe, den Nachlass von Ernst und Karola Bloch zu edieren und herauszugeben. Im Sommer diesen Jahres erschien das Buch „Briefe durch die Mauer“, das uns der Verlag freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat.
Vielleicht kurz zur Vorgeschichte: Nach dem zweiten Weltkrieg kehrten die Blochs aus der Emigration zurück, weil sie sich als überzeugte Marxisten in der DDR ein besseres Deutschland erhofften. Noch 1955 erhielt Ernst Bloch den Nationalpreis der DDR und den Vaterländischen Verdienstorden in Silber, die er schon im Oktober 55 als „knüppeldicken Segen“ bezeichnete. Denn immer mehr gerieten die Blochs in Widerspruch zur SED-Parteilinie, sie solidarisierten sich sogar mit Aufständischen in sogenannten „Bruderstaaten“ der DDR. 1956 folgte das Publikationsverbot Bloch. Auch Jürgen Teller, sein treuester Schüler, der Bloch’schen Lehre abschwören – und weigerte sich. Neben anderen Schikanen flog er schließlich von der Leipziger Uni, ihm wurde die Promotion aberkannt und er musste zur „Bewährung in der materiellen Produktion“ ins Leipziger Stahlwerk, wo er den linken Arm verlor. Ebenfalls 1957 wurde Bloch emeritiert und 1961, während die Mauer gebaut wurde, übersiedelten die Blochs in die Bundesrepublik. Die Tellers blieben in Leipzig, Jürgen Teller arbeitete als Lektor in verschiedenen Verlagen.
Das vorliegende Buch „Briefe durch die Mauer“ dokumentiert den Briefwechsel zwischen Ernst und Karola Bloch und den befreundeten Schülern Jürgen und Johanna Teller. Es beginnt im Jahre 1954 mit einem Brief Tellers an Bloch, in dem er über die einsetzenden Schwierigkeiten mit dem Staatsapparat anspielt. Der erste Teil besteht vor allem aus einigen Postkarten von Reisen der Blochs, er spielt vor der Auswanderung in die Bundesrebublik. 1961 unternahmen sie dann eine Vortragsreise in die Bundesrepublik, unter anderem auch nach Tübingen. In seinem letzten Brief aus dieser Zeit schreibt Teller:
Verehrte liebe Frau Bloch! Verehrter lieber Herr Professor!
Wir danken Ihnen herzlich für die freundlichen Grüße auf der gebirgigen Karte, angesichts welcher wir besonders verstehen, das Sie Ihren Urlaub verlängern. Natürlich sind wir gespannt auf die detaillierten Berichte über die Vorträge. Freund Unseld lassen wir, falls Sie ihm bald begegnen, herzlich wiedergrüßen. Wir vier sind alle wohlauf, Jo hat sich weiter erholt, und die Kinder sind wieder im Lande. Sonst hat das Barometer denselben Stand wie auf der entzückenden Fahrt unseres Kapitän Mac Whirr. Was soll ich Ihnen noch berichten, wo hier so gar nichts passiert?“
Das Barometer des Capitain McWhirr steht selbstverständlich auf Sturm. Und hinter der Formulierung, dass „hier so gar nichts passiert“, verbirgt sich der zwei Wochen zuvor begonnene Mauerbau. Bloch antwortet:
Lieber Jürgen,
wegen des schönen Wetters, auch wegen einer Magenverstimmung, die ich mir zugezogen habe, werden wir noch etwas hierbleiben. Es tut mir besonders leid, dass ich dadurch an Ihrer Disputation nicht teilnehmen kann. Dem Prodekan habe ich bereits geschrieben, für einen Stellvertreter Sorge zu tragen; womit der Formalität ja Genüge geschehen wird. In der alpinen Landschaft und den anmutvollen Tälern denke ich viel an Sie und Jo. […]
Ihnen beiden in Treue
Ihr EB“
Der zweite Teil des Buches umfasst die Tübinger Zeit Blochs, der an der hiesigen Universität eine Gastprofessur annahm. Die Briefe sind länger, meist ohne Anrede, viele mussten von Freunden über die Grenze geschmuggelt werden oder gingen an andere Adressaten. Ernst Bloch schreibt als Marcion, Karola als Polonia, die Tellers als Major Tellheim oder M.T. Heim bzw. als Minna – Anspielungen auf Figuren und historische Personen, die in den zahllosen Fußnoten erläutert werden, ganz wundervoll für unwissende Menschen wie mich selbst. Karola Blochs Name „Polonia“ etwa erklärt sich noch recht leicht daraus, dass sie in Polen geboren wurde. Ernst Blochs Name „Marcion“ bezieht sich auf einen Händler aus dem 2.Jh nach Christus:
In Abgrenzung zur erstarkenden herrschenden Religionsauffassung römischer Christen, verwirft Marcion den zornigen Gott. Dieses Bild des Strafens sei nicht das Profil des christlichen Gottes. Mit Jesus Christus begänne die Zeit des in Nächstenliebe sich offenbarenden Gottes. […] Seine Gegner betonen dagegen die Härte der christlichen Gesetze. Die Marcioniten werden über mehrere Jahrhunderte verfolgt, bis ihre Spuren verschwunden sind. […] Marcion – eine Chiffre für Erlösung durch Humanität.
Bloch als Marcion, die Tellers als verfolgte Marcionisten. Zumindest hätten die Spitzel der Stasi einige Lexika zur Hand und vielleicht gelegentlich einen Besuch in einer Universitätsbibliothek gebraucht, wenn sie alle Anspielungen hätten verstehen wollen.
Die Briefe selbst zeigen die unterschiedlichen Lebensrealitäten. Teller kämpft um die Anerkennung seiner Dissertation, Bloch wird mit Einladungen zu Vorträgen überschüttet. Karola Bloch schreibt, wie sie in London waren und dann in Polen, wo sie bei der Gründung einer weltweiten Architektinnenvereinigung beteiligt war, sie schreiben Postkarten aus Capri und Florenz. Die Tellers bedanken sich für die Pakete mit Waschpulver, Kaffee und Wurst und schreiben Sätze, in denen die Bitterkeit immer wieder ein wenig mitschwingt:
„die Tochter geht jetzt zur Schule und der Sohn will Ozeandampferkapitän werden. Uns fehlt nur noch der Ozean.“
Doch die enge Verbundenheit der Familien auch durch die Mauer hindurch scheint wirklich unerschütterlich zu sein. Keine Spur von Neid oder Vorwürfen, dass Marcion und Polonia sich aus dem Staub gemacht hätten. Mit den Jahren scheint es auch lockerer zu werden, vielleicht waren die Unterschiede auch einfach so sehr zur Normalität geworden, dass sie an Bedeutung verloren. Der letzte Brief Ernst Blochs stammt aus dem Jahr 1975, er ist 90 Jahre alt. Zwei Jahre später stirbt er. Die zwanzig Jahre jüngere Karola schreibt:
… nun ist es soweit. Die geliebten Augen haben sich geschlossen. Immer wieder glaubte ich, das kann nicht sein, redete ihn an – mach‘ doch die Augen auf! Wollte nicht an den Tod glauben. Noch zehn Minuten vorher, kurz vor 9 Uhr, war ich an seinem Bett wie immer, um ihn zum Frühstück in sein Arbeitszimmer zu bringen, er sagte zwar, er fühle sich nicht ganz wohl, aber er kam bis zum Arbeitszimmer, und dort legte er sich sanft vor seinem Manuskriptschrank auf den Boden und sagte:
Ich kann nicht mehr. Dann schloss er die Augen, aber der Puls war noch da, ich dachte, er ist nur ohnmächtig. Doch bald stellte die Ärztin den Tod fest. Wir legten ihn im Wohnzimmer auf die Liege bis man ihn abholte. […] Das Begräbnis war überwältigend – 2 1/2 Tausend Menschen sind gekommen – Du kriegst noch die Dokumentation. Am Abend zog ein Fackelzug durch die Stadt, hielt auch vor unserem Haus. Er bedeutete der Jugend so viel …In Liebe Eure K.
Die Dokumentation kommt denn auch vom AStA der Uni Tübingen, sie trägt den Namen „Ernst Bloch lebt weiter“. Derselbe AStA beschließt noch im gleichen Jahr die Umbenennung der Eberhardino-Karolina in Ernst-Bloch-Universität Tübingen.
Das Buch ist nun noch lange nicht zu Ende. Auch die Briefwechsel der Hinterbliebenen des berühmten Philosophen sind nicht weniger lesenswert. Der immer schlechtere Gesundheitszustand der Jürgen Tellers, die Scheidung Jan-Robert Blochs, die Teller-Kinder, die anfangen zu studieren, der 100ste Geburtstag Ernst Blochs und damit verbundene vorsichtige Neuauflagen seiner Werke in der DDR, verschiedene andere Publikationen wie Briefwechsel – es gibt schon was zu reden. Den Mauerfall sucht man allerdings vergeblich: Vermutlich wurde da telefoniert. Eigentlich schade.
Fazit. Das Buch ist sehr lesenswert, sowohl für Kenner des Philosophen, die ihn mal aus einem anderen Blick kennenlernen wollen, als auch für Leser, die hier die deutsch-deutsche Trennung und ihren Verlauf aus der Perspektive zweier Akademikerfamilien erfahren. Ein Verzeichnis erwähnter Personen findet sich im Anhang.
Die Herausgeben haben sich viel Mühe gegeben, das Buch auch für Nicht-Eingeweihte verständlich zu machen, sie schießen damit eher ein wenig übers Ziel hinaus: Ernst Bloch selbst wird etwa in Fußnote 5 mit den Lebensdaten und der Bezeichnung „marxistischer Philosoph, Autor von ,Das Prinzip Hoffnung’“ eingeführt. Die Herausgebenden sind übrigens Jan Robert Bloch, der Sohn der Blochs und im Buch meist als „der Alchimist“ oder „der Naturwissenschaftler“ bezeichnet, sowie Anne Frommann und Welf Schröter, Bloch-Freunde und geübte Herausgeber der Arbeiten Karola Blochs.
Das Buch „Briefe durch die Mauer – Briefwechsel zwischen Ernst und Karola Bloch und Jürgen und Johanna Teller“ ist im Talheimer Verlag aus Mössingen erschienen, hat 344 Seiten und kostet 28€.