Entstehung und Sinn von NC und ZVS
Der Numerus Clausus ist ein Teil des deutschen Bildungssystems, der nicht oft gelobt wird. Zusammen mit der Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen haben die meisten Studierenden vermutlich unangenehme Erinnerungen an ihn. NC und ZVS, das riecht nach Überbürokratisierung, Einschränkung der persönlichen Freiheit und Behördenwillkür.
Das ist nicht falsch, und trotzdem: Schlimmer geht immer, meinen wir, und die Bildungsreformer arbeiten zur Zeit fleißig daran. Deswegen wollen wir hier einmal erklären, was die Studienanwärter eigentlich vom ungeliebten NC und der ZVS haben.
Erst am 4. April forderte Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler, FDP, die Abschaffung des Nummerus Clausus im Fach Medizin. Stattdessen will er hochschulinterne Eignungstests, er spricht dabei von „Auswahlgesprächen“. Hier kann er sich allgemeiner Zustimmung sicher sein: Das klingt nach mehr Gerechtigkeit, besseren Ärzten und danach, dass letztendlich alle davon profitieren. Und viele Medizinstudierende, die das mühsame Vergabeverfahren durchlaufen haben oder schon seit Jahren auf ihren Studienplatz warten mussten, fluchen sowieso auf die ZVS – die „Platzanweiserin der Nation“.
Dabei wird gern übersehen, dass nicht der NC das Problem ist, und auch nicht die ZVS. Wir wollen mit grundsätzlichen Gedanken über den Hochschulzugang beginnen. Thorsten Bultmann, Vorsitzender des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, unterscheidet beim Hochschulzugang grundsätzlich zwischen zwei Varianten, [Thorsten Bultmann: Veränderung des Hochschulzugangs, S. 3. In: fzs:magazin 3/2007]
In der einen liegt das Recht bei der Hochschule: Sie kann Bewerber annehmen oder ablehnen. Symptomatisch für dieses Modell sei eine hierarchische Ordnung der Hochschulen: Wird man bei einer der besseren nicht genommen, versucht man es eben an einer der schlechteren. Die Berufschancen werden nicht zuletzt durch den Studienort bestimmt.
In der anderen Variante besitzt der Bewerber ein „Recht auf Bildung“, also eine Hochschulzugangsberechtigung. Hier finden wir, so Bultmann, ungefähr gleichwertige Hochschulen vor, die Berufschancen ergeben sich mehr aus dem Abschluss und der Note als aus dem Studienort.
In Deutschland gilt traditionell das zweite Modell: Mit der Hochschulreife (meist dem Abitur) haben sich Studienanwärter und -anwärterinnen das Recht auf einen Studienplatz gesichert. Das ergibt sich aus der grundgesetzlich garantierten Freiheit der Studien- und Berufswahl in Artikel 12, Abs. 1 des Grundgesetzes:
Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen.
Natürlich könnten wir nun kritisieren, dass sich dieses Recht nur auf Deutsche beschränkt – aber darum geht es gerade nicht. Uns geht es darum, dass hier ein Recht auf den Zugang zur Hochschule festgestellt wird. Da es zu den Grundrechten gehört, kann es zwar eingeschränkt werden und beinhaltet nicht den Anspruch auf eine Leistung (wie etwa die staatliche Bereitstellung der gewünschten Arbeitsplätze), es verlangt aber zum Beispiel, dass begrenzte öffentliche Ressourcen (in unserem Fall Studienplätze) gleichberechtigt verteilt werden müssen.
Diese Deutung legte das Bundesverfassungsgericht 1972 fest. Damals mussten im Zuge der Bildungsexpansion in den 60er- und 70er-Jahren die Kapazitäten der Hochschulen drastisch ausgeweitet werden, in Deutschland wurden sie fast verdreifacht. Und da das immer noch nicht genug war, wurden Forderungen laut, die Zulassung nach ökonomischen Bedarfsprognosen zu regeln. Erste Versuche beendete das Bundesverfassungsgericht allerdings im Juli 1972 mit dem Numerus-Clausus-Urteil. Es erklärt:
Aus dem […] Recht auf freie Wahl des Berufes und der Ausbildungsstätte in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip folgt ein Recht auf Zulassung zum Hochschulstudium. […] Absolute Zulassungsbeschränkungen für Studienanfänger einer bestimmten Fachrichtung sind nur verfassungsmäßig, 1. wenn sie in den Grenzen des unbedingt Erforderlichen unter erschöpfender Nutzung der vorhandenen Ausbildungskapazitäten angeordnet werden und 2. wenn Auswahl und Verteilung der Bewerber nach sachgerechten Kriterien mit einer Chance für jeden an sich hochschulreifen Bewerber und unter möglichster Berücksichtigung der individuellen Wahl des Ausbildungsortes erfolgen.
Mit anderen Worten: Zulassungsbeschänkungen dürfen nur eingeführt werden, wenn es nicht anders geht und nur, wenn jede und jeder Hochschulzugangsberechtigte trotzdem eine Chance bekommt.
In der Folge dieses Urteils entstanden die Kapazitätsverordnungen der Länder, die ZVS und der Nummerus Clausus. Anhand der Kapazitätsverordnung wird berechnet, wie viele Studierende eine Hochschule in einem Fach annehmen muss. Die ZVS verteilt bundesweit die knappen Studienplätze. Als „sachgerechtes Kriterium“ wird die Abiturnote herangezogen. Die Chance für alle besteht darin, dass ein Teil der Studienplätze ausschließlich über eine Warteliste vergeben wird.
Gerade über die Abiturnote als ausschlaggebendes Kriterium muss man nun natürlich streiten. Doch so sehr die Kriterien geändert werden müssten: Die zentrale Vergabe von Studienplätzen ist der Versuch, alle zu ihrem Recht kommen zu lassen. Thorsten Bultmann vom BdWi schreibt:
Im Kern handelt es sich bei diesem Verfahren um ein durchaus umbefriedigendes, sozialbürokratisches Verfahren der Mängelverwaltung, bei welchem aber – und das ist ganz entscheidend – die Rechtsansprüche der Studienplatzbewerber höher wiegen als besondere Interessen der einzelnen Hochschulen, über eine „Eignung“ dieser Bewerber zu befinden.
Halten wir also fest: Nicht die ZVS und auch nicht der Nummerus Clausus – der Mangel an Studienplätzen ist das Problem. Nummerus Clausus und ZVS sind wenigstens die Versuche, damit transparent umzugehen. Sie war ja auch nur als Provisorium gedacht, um die Zeit zu überbrücken, bis ausreichend Kapazitäten aufgebaut waren.
Doch zu diesem Ausbau der Kapazitäten kam es nicht – zumindest nicht in den letzten 37 Jahren. Auf 13.191 von der ZVS vergebene Studienplätze kamen im letzten Wintersemester 58.466 Bewerbungen Quelle. Das sind 4,4 BewerberInnen pro Studienplatz. Das weiß auch Bundesgesundheitsminister Rösler im schon angesprochenen Interview mit der FAZ und zieht daraus den Schluss, dass man den NC durch andere Kriterien ersetzen sollte. Zitat:
Der Notendurchschnitt allein sagt nichts darüber aus, ob jemand ein guter Arzt wird. Ich finde, da kommt es noch auf ganz andere Faktoren an: So spielt die Fähigkeit zur menschlichen Zuwendung eine große Rolle. Deswegen plädiere ich für eine Abschaffung des Numerus clausus und für eine stärkere Berücksichtigung von Auswahlgesprächen. [Quelle]
Wie er aus den Bewerbermassen diejenigen herausfinden will, die über diese für Ärzte besonders wichtige „Fähigkeit zur menschlichen Zuwendung“ verfügen, erklärt er nicht. In den Auswahlgesprächen dürfte das kaum möglich sein. Warum er es den BewerberInnen zumuten will, sich bei Universitäten im ganzen Land zu bewerben, verschweigt er auch besser. Genauso wie er kaum andeutet, dass sich die Hochschulen auch im Medizinstudium schon jetzt ganze 60% ihrer Studierenden selbst aussuchen dürfen und dabei auch andere Kriterien als den NC benutzen können. Und Rösler verschweigt ganz, dass fast alle Unis die Auswahl dieser 60% wieder an die ZVS delegiert haben.
Die Lösung des Problems jedenfalls liegt sicher nicht in mehr Auswahlverfahren, sondern schlicht darin, die Finanzierung der Hochschulen an die Nachfrage anzupassen. Nur so würde auch das das grundgesetzliche Recht auf die freie Wahl der Ausbildungsstätte ernst genommen – womit wir beim immer gleichen Thema wären, dem Geld. Doch statt die Universitäten auch nur ausreichend zu finanzieren, sollen die knappen Studienplätze immer mehr in nach den Prinzipien des Arbeitsmarkts vergeben werden. NC und ZVS sind zwar schlimm genug. Aber wie gesagt: Schlimmer geht immer.
Denn die Vorstellungen des Bundesgesundheitsministers sind symptomatisch für ein System, die seit einigen Jahren auf Deutschland übergreift. Wir bewegen uns hin zu einer wettbewerblichen Struktur, in der es Rankings und Elite-Universitäten gibt, in der Universitätsunternehmen sich für die BewerberInnen entscheiden, die zu ihnen passen. Den Studierenden bleibt das Recht, sich bei möglichst vielen davon zu bewerben. Schlecht ist dann natürlich, wenn schon der Kindergarten nicht gut genug war, man deswegen nicht auf eine gute Schule konnte und weder Papa noch Mama einen von den Wissenschaftsmanagern an den Elitehochschulen persönlich kennen.
Aber wenns bei den guten Unis nicht klappt, klappts vielleicht bei den schlechteren.